2003
Reclaim The Streets
«Willkommen in Zürich» heisst es in schwarzen Lettern auf gelbem Grund. Der russische Schriftsteller Wladimir Kaminer war bei seinem Besuch ob des Willkommensgrusses entzückt. Doch beim Lesen des Kleinergedruckten beschlich ihn «ein merkwürdiges Gefühl, so als würde ich eine Schweizer Uhr von innen besichtigen». Nun, Kaminer sah sich mit Sauberkeitspostulaten zwinglianischen Geistes konfrontiert: «Auf Hundekot steht hier niemand», «Erlaubt ist, was nicht stört», «WC benutzen».
(Stephanie Riedi, Facts, 18.7.2002)
Im Jahr 2001 waren zeitweise mehr als zehn Häuser besetzt, zunehmend auch wieder in zentrumsnahen Quartieren. Insbesondere die Besetzung des Egocity an der Badenerstrasse 97, des Hotel Garni an der Ecke Herman-Greulich-/Stauffacherstrasse, des ehemaligen Restaurants Krone in Altstetten, des historischen Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse und der Sihlpapier-Fabrik erfuhren grosse mediale Aufmerksamkeit und zum Teil ungewohnt positive Berichterstattung. [...] Verschiedene relativ unabhängig voneinander funktionierende und zum Teil auch zerstrittene Szenen waren aktiv: von den Squattern aus dem Umfeld der autonomen Szene spaltete sich die künstlerisch orientierte Dada-Fraktion ab, weiter enstanden junge Hip-Hop- und gut durchmischte Familienbesetzungen.»
(Thomas Stahel, «Wo-Wo-Wonige!», Paranoia City Verlag)
«In den Kreisen 4 und 5 läuft nur noch eine Aufwertungsgeschichte», meint Alice, «wer nicht bezahlen kann, muss raus.» Diejenigen, die in diesen Kreisen über Jahre Räume geschaffen und aufgebaut haben, finden im aufgewerteten Umfeld plötzlich keinen Platz mehr. Zwar waren es diese Räume, die zu einer neuen Lebendigkeit von ehemaligen Problemzonen wie dem Kreis 5 beigetragen haben und die Gebiete für ein «urbanes» Publikum erst wieder interessant machten. Doch nun müssen sie einer neuen Ausgangs- und Wohnkultur weichen. Der Lärm, der noch vor zwei, drei Jahren Zeichen für eine lebendige Stadt war, stört nun. «Am liebsten würden sie uns in den Randquartieren versorgen», stellt Alice fest.
(Philipp Anz, Die Wochenzeitung, 9.10.2003)
Es wird eng in Zürich: Das Zürcher «Reclaim The Streets» vereint Vertreter mehrerer Generationen und Angehörige aller Subkulturen. Gemeinsam wollen wir zeigen, dass wir ein ernstzunehmender Faktor in Zürich sind. Restriktive Bewilligungspraktiken und repressive Polizeieinsätze hindern uns nicht daran, das Stadtleben mit kulturellen Veranstaltungen zu bereichern, die ohne Gigantismus, Sponsoring und Kommerzdenken funktionieren. Mit unserer Masse setzen wir ein klares Zeichen dafür, dass ein Bedürfnis nach alternativen Freiräumen in dieser Stadt existiert.
(Flugblatt zum «Reclaim The Streets», 11.10.2003)
Versucht man die Forderungen vom Wochenende mit viel gutem Willen trotzdem auf einen Nenner zu bringen, könnte dieser heissen: Mehr kultureller und gesellschaftlicher Freiraum. Nur: Was die Demonstrierenden verlangen, ist in Zürich längst verwirklicht: So viele Freiräume wie heute gab es noch nie. Wie fragte doch am Sonntag jemand im Internetforum des alternativen Zürcher Kulturzentrums Egocity: «Was braucht ihr noch, was ihr nicht habt?» Und antwortete gleich selbst: «Ich versteh es nicht.»
(Lukas Häuptli, Tages-Anzeiger, 14.10.2003)