2008
Erlebte Emotionen
Die zweite Hauptsorge galt dem Lärm. Auf den fünf Bühnen am Limmatquai finden während der EM täglich Konzerte bis um Mitternacht statt. Von Donnerstag bis Samstag dürfen die Bars bis zwei Uhr Musik spielen. «Wir haben aber nur 87 Dezibel erlaubt statt der gewöhnlich geduldeten 93», sagte Roland Stahel, Organisator der Fanmeile. Doch er stiess auf taube Ohren. «Drei Wochen Musik, und danach wird die ganze Nacht geputzt, das hält man nicht aus. Stellen Sie sich die Kinder vor. Die werden kein Auge zutun», sagte ein Anwohner. «Man hätte die Schulferien vorverschieben sollen», witzelte eine Teilnehmerin. Nicht alle fanden es lustig.
(Beat Metzler, Tages-Anzeiger, 7.3.2008)
Man will nur gute Bands hören in Zürich. Gute Stücke sehen. Zu guten DJs tanzen. In coolen Bars abhängen. Weil die Stadt aber nicht nur schön, sondern auch teuer ist, muss man viel arbeiten, wenn man dazugehören will. Da bleibt keine Zeit, einen eigenen Geschmack zu entwickeln. [...] In Zürich herrscht Begeisterungszwang. Wehe dem, der Gott Fussball und seinen Hohepriestern, den Sponsoren, nicht lautstark huldigt. Wir wissen schon in Voraus, dass die EM ganz wunderbar sein wird. Wir warten nicht ab, ob es gute oder schlechte, langweilige oder spannende Matches geben wird. Stand in den Neunzigerjahren an der Wohlgroth noch das Motto «Alles wird gut», so heisst es heute: «Alles ist super.»
(Stephan Pörtner, Tages-Anzeiger, 19.4.2008)
Im Moment denken alle an Fussball, wenn von Fans die Rede ist. Auch die Zürcher Fan-Zone scheint sich zunächst durch die EM und die Übertragungen von EM-Spielen zu erklären – das Public Viewing erlaubt es dem Fussball-Fan eben, im Rudel zu «fanen». Fans gibt es indes auch in der Pop-Kultur; und auch diese kommen an der Bellevue-Fanmeile auf ihre Rechnung. Es finden hier so viele Konzerte statt, dass man die EM gar als Rahmenprogramm missverstehen könnte.
(Ueli Bernays, NZZ, 4.6.2008)
Von 4. bis 6. Juli 2008 finden im Hardturmstadion Zürich die «Brotäktschen»-Spiele statt: Ein Wochenende voller nichtkommerzieller, selbstbestimmter, unreglementierter und ausgelassener Spiele, Konzerte und Parties, kulinarischer und künstlerischer Darbietungen. «Brot&Aktion» nimmt sich einen Freiraum und zeigt, dass Grossanlässe auch ohne Sponsoring, absurde Sonderregelungen, 1000schaften von Polizeikräften, Militäreinsätzen und Überwachung durch Drohnen durchführbar sind. [...] «Brotäktschen» steht in der Tradition von Aktionen wie «Reclaim The Streets», «Shantytown» oder «Danslieue». Kultureller Freiraum und Anlässe, die nicht aus kommerzieller Motivation durchgeführt werden, sind in der sauberen Limmatstadt selten geworden.
(Flugblatt zu «Brotäktschen», 4.7.2008)
Samstagnächtlicher Besuch des besetzten Zürcher Hardturmstadions eine Gegenveranstaltung zur Euro 08. Die Zusammenfassung: 1. Schon jetzt muss man sagen: Das war die Party des Jahres! Die Location ist atemberaubend; es gab hochkarätige Bands und DJs, einen mit Feuerwerkskörpern zum «Firewheel» hochgerüsteten Traktorenpneu, in dem man von der Tribüne rollen konnte, ein «Ben Hur»-mässiges Wagenrennen auf «Mad Max»-Fahrzeugen, ein Variété mit einer äusserst kurvigen Stripperin; das Who’s who der Zürcher Kultur war da, es war laut, es war wild, es dauerte ewig. 2. Der Szene geht der Nachwuchs aus: Die Teenies fehlten, ihnen wars wohl zu unkommerziell. 3. Auf dem Hardturm herrschte seit 1996 (Champions-League-Spiel gegen die Rangers, 3:0) nicht mehr so gute Stimmung.
(Simon Brunner, Die Weltwoche, 10.7.2008)
Sie sind in Massen an das grosse Fest gekommen. 5000 sollen es gewesen sein. Ein Fest für alle, egal wie dick das Portemonnaie ist. Ein Fest für alle, ausser für «Nazis, Cops und Yuppies», wie am Eingang unmissverständlich geschrieben steht. Vor allem Letztere sind trotzdem gekommen. Doch auch das schönste Fest geht irgendwann zu Ende. Zurück bleibt ein Stadion ohne Werbeschriftzüge, ein bisschen Sperrmüll, und die in den Rasen gebrannten Worte: «Bis bald». «Brotäktschen» war erst der Anpfiff.
(Noëmi Landolt, Die Wochenzeitung, 10.7.2008)